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Gedanken zu einer möglichen neuen Religion
Meine Ausgangsfrage ist folgende: Wie kam es denn dazu, dass nördlich der Alpen innerhalb von nur etwa 5 Jahren mächtige gesellschaftliche Bewegungen ins Leben gerufen wurden, nachdem ein damals noch völlig unbekannter Mönch und Professor namens Martin Luther im Jahre 1517 95 Thesen vor einem begrenzten Studentenkreis im sächsischen Städtchen Wittenberg verteidigt hatte – und zwar zu einer derart mächtigen gesellschaftlichen Bewegungen, dass dadurch eine Kirchenspaltung erfolgte und ein Phänomen ausgelöst wurde, das mit dem ungeschickten Singular „Reformation“ bezeichnet wurde?
– Diese Ausgangsfrage stellt den ersten Teil meiner Betrachungen dar. Es ist die Frage nach den Faktoren, die das Reformationsphänomen ausgelöst haben.
– In einem zweiten Teil möchte ich verdeutlichen, dass die sogenannte „Reformation“ sowohl in ihrer religiösen als auch in ihrer politischen Komponente längst nicht einheitlich war.
Abschließend und im Anhang möchte ich einige Überlegungen zu folgender Frage anstellen: Was für eine Reformation wäre heute erforderlich, damit in unserer westlichen Welt das Christentum mit seinen ganzen Infrastrukturen und wertvollen gesellschaftlichen Dienstleistungen nicht weiter dem Verfall ausgesetzt ist?
Zunächst zum ersten Punkt, nämlich zu den Faktoren, die die sogenannte „Reformation“ auslösten. Es ist falsch zu glauben, dass die 95 Thesen von Luther so genial und neu waren, dass allein dadurch Reformation und Kirchenspaltungen zustande kamen!
Es gab nämlich in allen Jahrhunderten immer wieder Menschen, die die wiederholt auftretenden Missstände bei der Ausübung der christlichen Religion anprangerten und sich dazu umso mehr befugt fühlten, als der Ausgangspunkt der christlichen Religion nicht ein neu entworfenes religiöses System war (ein solches System wurde erst später und im Laufe der Jahrhunderte ausgearbeitet und ausgebaut), sondern die Kritik an einer bereits bestehenden Religion, welche den Menschen und seine Bedürfnisse zugunsten bestimmter religiösen Auffassungen und Handlungen vernachlässigt hatte.
Gewiss war Luthers Handlung mutig; gewiss entsprang sie aus dem Herzen eines Menschen, der nicht danach strebte, sich ein Renommee zu schaffen, sondern sich während Jahren zutiefst mit religiösen Fragen auseinandergesetzt hatte, und dabei oft, wie noch viele andere Zeitgenossen, in Verzweiflung geriet und den aufrichtigen Wunsch hegte, seinen Mitmenschen behilflich zu sein, diesen wieder zu einer inneren Hoffnung zu verhelfen.
Denn vergessen wir es nicht: In der damaligen christlichen Welt war alles käuflich!
– Die Zeremonie der Taufe, dank der dem neugeborenen Kind ein guter Start ins Leben garantiert werden sollte, weil ihm dadurch die Möglichkeit eines ewigen Lebens zuteilwurde;
– Die an Gott gerichteten Bitten zugunsten vorteilhafter Lebensumstände. Um diesen Gebeten den Erfolg zu gewährleisten, musste man selbstverständlich etwas bezahlen, egal, ob man diese Bitten selbst ausrichtete oder (was damals als sicherer galt) von gottgeweihten Menschen, wie Mönche oder Priester, vorbringen ließ;
– Käuflich war auch die letztmögliche Inszenierung der eigenen Person beim Abgang aus dieser Welt, dank einer gebührenden Zeremonie;
– sowie auch ein angenehmes Fortleben im Jenseits, auf das man noch weniger als heute bereit war zu verzichten (weil man, viel mehr als heute, danach strebte; viel mehr als heute daran glaubte). Man hoffte, etwas dazu beitragen zu können, indem man mit einer entsprechenden Bezahlung dafür sorgte, dass nach dem eigenen Ableben oder nach dem Tod eines Nahestehenden Menschen Geistliche während Jahren, während Jahrzehnten oder gar bis zum Weltende Messen feiern und Gebete sagen würden. Solche Verträge machten Sinn, weil man im Laufe des Mittelalters zur hoffnungsvollen Überzeugung gelangte, dass es doch möglich sein müsste, noch im Jenseits die Versäumnisse seines irdischen Daseins nachzuholen, und demzufolge die Existenz eines Übergangsortes zwischen Hölle und Himmel, zwischen ewigem Verderben und ewiger Erlösung, postulierte – ein Übergangsort, den man Purgatorium oder Fegefeuer nannte. Und dank des Kaufs von Ablassbriefen wurde es damals möglich, die Länge des Aufenthalts im Fegefeuer zu verkürzen, ja sogar (zumindest behaupteten dies einige) die Seele nicht nur aus dem Fegefeuer, sondern auch aus der Hölle selbst zu erretten!
Für all die genügend Geld hatten und nicht geneigt waren, über ihren baldigen Tod und über den Sinn ihres Lebens nachzudenken, waren solche Vorkehrungen natürlich recht praktisch. War man aber gezwungen, für die Versorgung im Alltag zu kämpfen, so schmerzten solche Ausgaben umso mehr, als man dabei nie wirklich sicher war, ob solche Vorkehrungen tatsächlich funktionieren würden, egal wie viel man dafür bereits gespendet hatte. Grund, daran zu zweifeln, gaben die Geistlichen selbst, die das Geld einkassierten und die nur zu oft nicht beispielhaft und im Einklang mit der von ihnen gepredigten Lehre lebten; was wiederum einen großen Teil der Bevölkerung zu einer antiklerikalen Gesinnung brachte.
Doch sind die damaligen Missstände nicht allein den Klerikern zuschreiben. Die von den Geistlichen gemachten Versprechen und angebotenen Dienstleistungen entsprachen ebenfalls den Erwartungen der Bevölkerung. Zudem wurden sogar die Geistlichen selbst Opfer des von ihnen initiierten Systems. Um sich eine bequeme Existenz zu sichern, mussten sie jedes Amt in der Kirche erkaufen, ja sogar den Eintritt ins Kloster. Je größer das damit verbundene Einkommen, je größer die dafür aufzubringende Geldsumme!
Unter den Gelehrten, welche aber nur einen ganz kleinen Teil der Bevölkerung ausmachten, gab es noch größeren Grund zum Zweifel und zur Unzufriedenheit, zumal diese wussten, dass diese lukrativen Praktiken nicht wirklich auf der offiziellen Lehre der Kirche fußten und trotzdem von den Geistlichen (vom einfachen Mönch bis hin zum Papst) betrieben wurden, weil sie deren Interessen dienten und der Mensch, genauso wie heute, nicht gerade bereit war, sein eigenes Interesse dem Allgemeinwohl seiner Gesellschaft unterzuordnen.
Luther war längst nicht der Einzige, der diese Missstände anprangerte. Seine Thesen waren also diesbezüglich nichts Besonderes. Die Diskrepanz zwischen der schriftlich anerkannten offiziellen Lehre der Kirche und die alltäglichen religiösen Diskurse und Praktiken hatte er nicht als Erster thematisiert. Er war auch nicht der Erste, der angesichts der damaligen Kirche in Verzweiflung geriet, Hoffnung suchte und sich nach Besserung sehnte. Noch weniger waren er und seine Thesen verantwortlich für die antiklerikale Stimmung der Bevölkerung. Diese gab es schon mindestens seit dem 15. Jh., wenn nicht schon viel früher.
Hier einige Texte, die dies gut belegen. Der Erste stammt aus einer schon damals sehr bekannt gewordenen Schrift: Das Narrenschiff des Straßburgers Sebastian Brandt. Das Büchlein erschien zum ersten Mal 1494 (also 20 Jahre vor Luthers Thesen) und wurde daraufhin unzählige Male nachgedruckt. Der Auszug zeigt, dass man schon damals genau wusste, dass es wohl nicht genügen würde, Geld für sein Heil auszugeben, sondern es zudem auch noch erforderlich sein müsste, sein Leben zu verbessern.
Wer Cras Cras [vom Lat.: morgen, morgen] singt, genauso wie ein Rabe,
Der bleibt ein Narr bis in sein Grabe.
Morgen wird ihm noch eine größere Narrenkappe zuteile.
Durch das ständige Vertagen
Erweist er sich als Narr; dem wolle Gott die Kraft verleihen,
Sich noch heute zu verbessern,
Von seinen Sünden abzustehen,
Und ein besseres Leben anzufangen.
Der Niederländer Erasmus von Rotterdam, den viele heute nur namentlich kennen, jedoch leider kaum gelesen haben, veröffentlichte 1503 ein Handbüchlein eines Christlichen Streiters, in dem er Folgendes schrieb:
Wahrhaft, ich schäme mich, ein Christ zu sein, da die meisten Christen wie das stumme Vieh ihren eigenen Trieben dienen, und so wenige im christlichen Kampf geübt sind, dass sie nicht einmal fähig sind, den Unterschied zwischen Vernunft und Verwirrung zu begreifen. Sie glauben, dass der Mensch nur aus dem, was sie sehen und spüren können, bestünde. Ja sie meinen, es gäbe nur das, was sie mit ihren Sinnen feststellen können, wo doch nichts weniger zutrifft! Ferner halten sie alles für richtig, wonach sie begehren (S. 125).
Zudem aber war Erasmus auch der Meinung, und dies schon vor Luther (und dabei war er weder der Erste noch der Einzige), dass der Mensch ein noch so gutes Leben führen kann und doch nie seine Erlösung verdienen könnte. Für ihn stand fest, dass der sich Mühe gebende Mensch stets auf Gottes Gnade und auf die von diesem erwirkte Erlösung angewiesen war.
Zurück zu unserem Anliegen. Wieso kam es denn erst allmählich nach 1517 zum Phänomen der sogenannten „Reformation“ und der damit verbundenen Kirchenspaltung?
Bestimmt brauchte es viele Menschen (und nicht lediglich Luther – und längst nicht allein unter den Laien, sondern auch unter den Geistlichen), die an zahlreichen Orten der damaligen christlichen Welt es nicht nur wagten, das mangelhafte Leben der Geistlichkeit anzuprangern, sondern auch die Widersprüche aufzuzeigen, die sie zwischen der Religion ihrer Zeit und der aus den frühchristlichen Quellen abzuleitenden Religion beobachteten. Bestimmt brauchte es viele mutige und von einem Ideal beseelte Menschen, die bereit waren, auf die ihnen bis dahin garantierten Vorteile zu verzichten, ja sogar für ihre neuen Erkenntnisse zu sterben.
Doch möchte ich hier behaupten, dass diese mutigen Menschen kaum mehr als einige Reformmaßnahmen hätten bewirken können, Maßnahmen, die bald wieder vom System erstickt worden wären.
Warum kam es also dennoch zur sogenannten Reformation? Es kam dazu, weil es in der westlichen Welt gesellschaftliche Schichten gab, die in der Kritik der damaligen Religion und in den damit verbundenen Erwartungen die Möglichkeit erkannten, ihren Einfluss, ihre Macht und ihren Reichtum zu mehren (was allerdings nicht ausschließt, dass diese Kreise zudem aus echter religiöser Überzeugung gehandelt haben könnten). Die weltlichen Behörden hatten genug davon, immer wieder mit einem Staat im Staat konfrontiert zu sein – mit einem kirchlichen Staat, der die Geistlichen vor zivilen Verfahren und Bestrafung schützte. In den bürgerlichen Städten hatte man genug davon, mitansehen zu müssen, wie Töchter aus gutem Hause von Geistlichen geschwängert wurden, ohne dass Letztere von der Zivilinstanz bestraft noch zur Übernahme der damit verbundenen Verantwortung verpflichtet werden konnten. Man hatte genug davon, zuschauen zu müssen, wie das Geld der Untertanen innerhalb des eigenen Machtreviers die unantastbare christliche Kirche stets reicher machte, und es demzufolge immer schwieriger wurde, mit ihr Schritt halten zu können. Man hatte genug von den vielen Italienern, die nördlich der Alpen das Sagen in der Kirche hatten, oft die einheimische Bevölkerung verachteten oder übergingen und einen nicht geringen Teil des eingesammelten Geldes nach Italien, besonders nach Rom übermittelten, wo schon seit einigen Jahren der Papst den Anspruch hegte, Kriege führen zu dürfen, und wo seit 1506 die größte Basilika der Welt im Bau stand.
Außerdem erkannten diese regierenden Schichten – seien es Fürsten, Landesherren oder städtische Behörden – in der antiklerikalen Stimmung eines Teils ihrer Bevölkerung die Möglichkeit, unter dem Vorwand einer besseren und gerechteren Bewirtschaftung sich die Kirchengüter anzueignen und ihre Kassen wieder zu füllen.
Die Reformation wurde also nur durch eine politische Rückendeckung möglich. Diese Erkenntnis gestattet uns allerdings nicht, die religiöse Komponente der Reformation zu verkennen. Es gab nun wirklich eine religiöse Komponente. Sie konnte sich an verschiedenen Orten des Reichs je nach der theologischen Auffassung des dort wirkenden Reformators mit unterschiedlichen religiösen Ansichten und Bräuchen durchsetzen oder zumindest, um es genauer zu sagen, zum Teil durchsetzen, da die religiösen Ansprüche und Anschauungen dieser Reformatoren stets von den politischen Behörden beeinflusst, ja zum Teil gedämpft wurden. Deshalb ist der für das Wort „Reformation“ gebrauchte Singular irreführend, denn er erweckt den falschen Eindruck, dass der „Reformation“ eine einheitliche Lehre zugrunde liegt.
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Damit sind wir zu unserem zweiten Punkt gelangt. Mit der Reformation sind ganz unterschiedliche, manchmal sogar widersprüchliche Lehrsätze, Kirchenkonzepte und Rituale entstanden. Es wird allerdings behauptet, dass alle Reformbewegungen zwei Grundprinzipien gemeinsam hätten, nämlich:
Zum Ersten: Das Prinzip „sola scriptura“, laut dem die sogenannte „Heilige Schrift“ die einzig autorisierte Quelle darstellt, aus der die christliche Lehre, Religiosität und Ethik abzuleiten seien.
Zum Zweiten: Das Prinzip „Sola fide“, oder auch die „Erlösung allein durch den Glauben“, in dem allerdings der Glaube nicht als menschliche Errungenschaft, sondern ausschließlich als Gabe Gottes angesehen wurde.
Stimmt es nun wirklich, dass diese zwei Prinzipien für alle Protestanten gültig waren? Die Antwort ist Nein. Denn geht man der Sache nach, stellt man bald fest, dass die Reformatoren unter diesen angeblich gemeinsamen Prinzipien gar nicht das Gleiche meinten!
Wenn Luther in seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kirche „Die Schrift allein“ betonte, meinte er „Der Glaube allein“ oder „Sola fides“. Letzteres Prinzip führte ihn sogar dazu, die Bücher innerhalb der sogenannten „Heiligen Schrift“ unterschiedlich zu bewerten und gegebenenfalls einige Aussagen der Schrift für falsch zu erklären. Dazu kommt auch die Beobachtung, dass Luther nicht bereit war, religiöse Lehrsätze oder Praktiken nur deshalb abzuschaffen, weil sie nicht in der Schrift aufzufinden waren. Seiner Ansicht nach waren sie nur dann abzuschaffen, wenn sie gegen das Prinzip vom „Glauben allein“ verstießen, d.h. wenn sie voraussetzten, dass der Mensch einen Beitrag zum eigenen Heil leisten konnte bzw. leisten musste.
Erasmus, der der Reformation nicht beitreten wollte, konnte noch weniger als Luther das Prinzip von der „Schrift allein“ anerkennen. Er betonte vielmehr, dass es unmöglich sei, eine 1‘500 Jahre alte Religion, die sich im Laufe der Zeit unvermeidbar entwickeln musste, wieder in die Kinderwiege hineinzuzwängen. Doch war er zugleich der Meinung, dass längst nicht alle Entwicklungen im Christentum gut waren. Wie Luther wandte er ein Prinzip an, um eine Beurteilung zu ermöglichen, und zwar das Prinzip „Sola gratia“ (das „Heil durch die Gnade allein“), das keineswegs mit dem von ihm abgelehnten Prinzip „Durch den Glauben allein“ gleichzustellen ist. Mit Luthers Prinzip konnte er nichts anfangen. Er erklärte es sogar als gefährlich. Denn er war überzeugt, dass das Prinzip vom „Glauben allein“ die Menschen dazu veranlassen würde zu denken, dass es genüge, an Gott und an seine Gnade zu glauben, um erlöst zu sein; dass der Mensch dadurch jegliche Motivation, ein besseres Leben zu führen, verlieren und sich zu einem Fatalisten entwickeln würde, zumal ihm ja der Glaube nur durch Gott zuteilwerden konnte. Erasmus war sich bewusst, dass mit dem Prinzip „durch den Glauben allein“ die Erlösung eine Angelegenheit wird, auf die der Mensch nicht den geringsten Einfluss nehmen kann. Deshalb hielten Erasmus und viele andere Theologen am Prinzip des freien Willens im Menschen fest: Der Mensch muss doch fähig sein, sich für oder gegen Gott, für oder gegen seine Erlösung zu entscheiden. Anders gesagt: Das Heil kann doch nicht über den Kopf des Menschen hinweg entschieden werden! Gleichzeitig gilt aber auch für Erasmus das Prinzip von der „Gnade allein“. Seine Haltung kann man wie folgt zusammenfassen: Ohne Arbeit an sich selbst kann man nicht erlöst werden. Doch nie könnten derartige Bemühungen die Erlösung verdienen. Der Mensch ist stets auf Gottes Gnade angewiesen.
Und wie stand es nun mit den Zwinglianern und den Calvinisten, aus denen die sogenannte „reformierte Kirche“ entstand? Zwingli und Calvin betonten ganz wie Luther das Prinzip vom „Glauben allein“, doch gleichzeitig standen sie den von Erasmus erhobenen Einwänden nicht gleichgültig gegenüber. Da sie viel mehr als Luther im Humanismus verwurzelt waren, teilten sie mit Erasmus die Überzeugung, dass die Religion zur Besserung des Menschen in der Gesellschaft führen sollte. So entstand in den von Zwingli und Calvin hervorgerufenen Reformen eine ständige Spannung: Zum einen hielten diese Reformatoren daran fest, dass der Glaube eine Gabe Gottes sei, dass der Mensch sich niemals von selbst dafür entscheiden könne. Sie glaubten aber zugleich, dass der von Gott geschenkte Glaube zwingend eine Besserung im Menschen auslösen würde; dass aber der Mensch mit den dadurch entstandenen guten Taten seine Erlösung nicht selbst verdienen könne, zumal die Erlösung, wie schon in Luthers Auffassung, gänzlich vom Menschen, von dessen Willen und Wirken, unabhängig sei. Anders aber als Luther teilten Zwingli und Calvin die Sorge, dass es dort, wo Gottes Kirche anzutreffen ist, zu einer besseren Gesellschaft kommen müsse.
Was geschieht aber mit den Menschen, denen Gott keinen Glauben geschenkt hat? Als Teil der christlichen Gesellschaft sollten auch jene zu einem anständigen Leben gezwungen werden, zumal dies ihnen nicht schaden kann und sie sonst Gottes Zorn auf die Gesellschaft, in der sie leben, heraufbeschwören würden.
Und wie soll man denn ALLEN ein anständiges Leben aufzwingen? Zwingli und Calvin beantworten diese Frage unterschiedlich. Für Zwingli soll der christliche Staat dafür sorgen. Für Calvin genügt das nicht; auch die Kirche muss dafür sorgen, zumal nicht alles, was von der christlichen Lehre her strafbar ist, vom Zivilgesetz als strafbar betrachtet wird (man spürt hier den Einfluss der juristischen Ausbildung Calvins).
Und bei der Frage nach den Grundlagen, nach denen die Kirche sich zu richten hat, lautet sowohl bei Zwingli als auch bei Calvin die Antwort „Die Schrift allein“, doch diesmal nicht wie bei Luther nur im Sinne von „Der Glaube allein“, sondern wortwörtlich „Die Schrift allein“!
Demzufolge glaubten Zwingli und Calvin, dass die Kirche auf jede religiöse Praktik und Lehre, die nicht in der Schrift bezeugt ist, zu verzichten hätte! Deshalb mussten die Bilder, die Skulpturen, ja sogar die Fenster mit Glasmalereien, und manchmal auch die Orgeln aus den Kirchgebäuden weichen.
Und trotz all ihrer Bemühungen blieben auch Calvin und Zwingli inkonsequent bei der Umsetzung des Prinzips „Die Schrift allein“! Denn wie hätten sie allein anhand der Schrift die Lehre der Dreieinigkeit beweisen können? Es bedurfte dafür mindestens der Beschlüsse der drei ersten sogenannten Ökumenischen Konzile, die Calvin erst nach vielen Jahren des Widerstandes anerkennen musste… Wie konnten Zwingli oder Calvin anhand der Schrift allein die Rechtmäßigkeit der Kindertaufe oder des sonntäglichen Ruhetags beweisen? Sie bemühten sich so gut wie möglich, indem sie im Neuen Testament nach allen möglichen Hinweisen dafür suchten. Doch gelang es ihnen nicht wirklich, alle davon zu überzeugen.
Und so entstanden Antitrinitarier, Täufer, Sabbatisten, Revolutionäre aller Arten, die sich hauptsächlich auf das Alte Testament bezogen.
Kein Wunder, dass vor diesem uneinheitlichen Spektakel damals schon einige Menschen so weit gingen, dass sie das Prinzip „sola scriptura“ in Frage stellten, auch wenn sie keineswegs bereit waren, die jahrhundertealte römische Kirche als Gottes Kirche zu anerkennen. Diese Menschen wurden als Spiritualisten bezeichnet. Sie betonten mehr als die übrigen Reformatoren, dass Gottes Wort nicht nur in der Bibel zu finden sei; ja sie waren sogar der Meinung, dass in der Bibel Gottes Wort mit menschlichen Gedanken durchmischt sei, und widersetzten sich deshalb dem Prinzip, laut dem schwierige (d.h. unpassende) Bibelstellen durch andere Bibelstellen zu erklären seien. Weil sie sich mehr als sonst üblich bewusst waren, dass Gottes Kirche nicht sichtbar und fassbar ist, spielten sie die Funktion der äußeren Kirche in der Gesellschaft und für den Glaubenden herunter. Und da sie dadurch noch individualistischer als die anderen Theologen ausgerichtet waren, gelangten auch sie zu keiner einheitlichen Lehre.
Im Laufe des 20. Jh.s wurden all diese Bewegungen, denen keine dauerhafte politische Rückendeckung zuteilwurde, unter dem Begriff „Linker Flügel der Reformation“ untergebracht.
Sie sehen, meine Damen und Herren, dass nur schon anhand dieser meiner summarischen Darstellung deutlich wird, wie falsch die Behauptung ist, dass innerhalb der Reformationsbewegungen der größte Lehrunterschied auf die Abendmahlslehre zu begrenzen sei! Ich könnte belegen, dass die Divergenzen in der Abendmahlsauffassung nur der sichtbare Teil eines riesigen Eisbergs von entscheidenden, grundsätzlichen Unterschieden darstellt, dass es also gar nicht so absurd war, wie es uns heute erscheinen mag, dass die Protestanten des 16. Jh.s sich wegen des Abendmahls so erbitternd gegenseitig bekämpften und hassten.
Es kann also nicht allein der „Wahrheit“ einer Lehre zu verdanken sein, dass es zur Reformation gekommen ist – was wiederum die Relevanz der im ersten Teil meines Vortrages entwickelten These untermauert.
Auch könnte ich genauso belegen, dass der Verbleib in der römischen Kirche keineswegs einheitlich zu bewerten ist. In diesem Fall haben auch längst nicht nur theologische und religiöse Gründe mitgespielt, sondern auch ökonomische, politische und psychologische Faktoren.
(Will dies heißen, dass die Reformation unnötig war? Keineswegs! Sie entsprach den damaligen Bedürfnissen und neuen Wahrnehmungen vieler Personen und Gesellschaften. Sie beeinflusste sogar (wenn auch nicht immer auf positive Weise) die Lehre und das Leben der römischen Kirche!
Trotz allem kann die Reformation nicht nur als ein positives Phänomen beurteilt werden und noch weniger mit einer angeblich absoluten Wahrheit in Verbindung gebracht werden (wie es die Reformatoren taten). Schließlich kann man die Reformation weder als endgültigen Erfolg, noch als abgeschlossenen Prozess betrachten. Durch sie entstanden viele ungeplante, ja sogar von ihr völlig unerwünschte Auswirkungen, die z.T. die in der heutigen christlichen Welt beobachtete Gleichgültigkeit der Religion gegenüber indirekt ausgelöst haben.
Ich möchte wie folgt schließen:
Die menschlichen Gesellschaften arbeiten eine zu ihnen passende Religion aus und nicht umgekehrt. Es wäre an der Zeit, dass der Mensch der heutigen westlichen Welt sich erneut seiner spirituellen Dimension bewusst wird, sich ernsthaft darum kümmert und den engen Zusammenhang seiner inneren Einstellung und seines äußeren Daseins erkennt. Es wäre an der Zeit, mit Hilfe der im Christentum während zwei Jahrtausenden gesammelten Erfahrungen, wie auch mit Hilfe der aus den Wissenschaften neu gewonnenen Erkenntnisse eine erneuerte Religion und Religiosität auszuarbeiten, wenn wir nicht einfach gedankenlos unser eigenes Ende heraufbeschwören wollen. Eine Reformation des Christentums genügt nämlich nicht mehr. Es bedarf einer Erneuerung, die eine genauso große Umwälzung voraussetzen würde wie diejenige, zu der es vor 2000 Jahren im Judentum kam.
Die Reformation entstand im 16. Jh., weil die Diskrepanzen zwischen der ausgeübten Religion samt deren Diskurs einerseits und den gesellschaftlichen Bedürfnissen, Ansprüchen und neuerworbenen Erkenntnissen anderseits, zu groß und unerträglich wurden. Das Gleiche trifft auch heute zu! Die Diskrepanz, die man zwischen den heutigen Erkenntnissen und Bedürfnissen einerseits und dem in der Kirche gehaltenen üblichen Diskurs andererseits beobachtet, ist einfach zu krass und hält viele Menschen, die sonst nicht abgeneigt wären, ihre Spiritualität auf dynamische Weise, d.h. zusammen mit anderen, zu entwickeln, von der heutigen Kirche fern.
Wird nun das Abendland einfach abwarten und ohnmächtig zuschauen, wie seine religiöse Tradition zu Grunde geht? Ich hoffe es nicht! Zumal das Christentum ein sehr gutes Potential hätte, sich selbst in Frage zu stellen und aufgrund der während zwei Jahrtausenden gesammelten Erfahrungen sich neu zu erfinden, weil es nämlich (vergessen wir es doch nicht!) durch die Kritik an einer schon bestehenden Religion entstanden ist.
Ansätze zu einer neuen Religiosität und erneuerten Religion
1) Die Bereitschaft, endlich auf jegliche Gottesauffassung zu verzichten, in der Gott als zuständig für all jenes dargestellt wird, das wir auf völlig egoistische Weise als „günstig oder gut für uns“ betrachten!
2) Die Bereitschaft, unsere Auffassung vom Guten und Bösen zu hinterfragen.
3) Die Bereitschaft, auf jegliche Rede über Gott zu verzichten, weil Gott nicht Objekt unseres Wissens sein kann und es an der Zeit wäre, sich weniger kategorisch über das, was wir nicht wissen, zu äußern.
4) Die Bereitschaft, endlich zu lernen, auf reife und positive Weise mit Fragen umzugehen, auf die wir keine Antwort wissen.
5) Die Bereitschaft, unsere Religion und Spiritualität nicht mehr allein auf der Basis einer abgeschlossenen, angeblich maßgebenden Textsammlung auszuarbeiten bzw. zu entwickeln.
6) Die Bereitschaft, unsere Spiritualität in unserem alltäglichen Leben zugunsten der Mitmenschen einzusetzen, zumal davon, heute mehr als je zuvor, nun tatsächlich die Zukunft der Menschheit abhängt.
D.I.V. – Total spannend, überzeugend. Danke, dass ich deine Überlegungen veröffentlichen kann, darf, soll. Und nun, lieber Leser, handeln sie danach, reformieren sie erneut. Sie können jetzt auch die Musik wieder einstellen. Zu einem Satzteil von D.I.V. «… und manchmal auch die Orgeln aus den Kirchgebäuden weichen.» versuche ich noch eine «Tonkonserve» aufzutreiben. Köstliche Orgelmusik. Exodus! Spätestens jetzt müssten sie begreifen, weshalb ich nicht Theologie studiert habe. Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, das ist mir zu viel. Aber das lateinische Exodus ist genauso eine Wortklauberei, wie der grieschische Begriff Exodos für den Besuch einer Bar, eines Nachtclubs. DIV ist die römische Zahl für 2021 – 1517 = 504 und für die Franzosen bedeutet es wieder etwas anderes. Ein Fahrzeug dessen ehemalige Produktionsgegend wir am Tag nach dem Konzert durchquerten. Zufall? Nein, den gibt es nicht. Eher saubere Analyse und Beachtung der Mitwelt.