Dr. Yahya Hassan Bajwa, 47, Kommunikations-Wissenschaftler, Dolmetscher und Dozent schrieb als 14-jähriger ein Lebensziel auf. Es ist eine, seine Lebensphilosophie. Er berichtet aus Pakistan, das von der Bevölkerung her, das sechst grösste Land der Welt ist.
«Bombenstimmung und doch friedlich – Wahlen in Pakistan 2008»
von Yahya Hassan Bajwa, Pakistan und Schweiz
— Erste Resultate der Wahlen in Pakistan
An erster Stelle ist nun die PPP der Familie Bhutto. Den zweiten Platz nimmt die ML-N der Familie Nawaz Sharif ein. Abgeschlagen ist die ML-Q, die durch den pakistanischen Präsidenten Musharraf unterstützt wurde. Auch sehr interessant ist die Tatsache, dass die fundamentalistische Partei von Fazal ur Rehman nur gerade 7 Sitze gewinnen konnte – eine Ohrfeige an die sogenannten Islamisten.
–Es wurden Anschläge befürchtet – Meldungen: Leute blieben den Urnen fern aus Angst vor Anschlägen – bisher verlief alles ruhiger als erwartet – Wie ist die Stimmung jetzt in Islamabad?
Es ist richtig, nach den verschiedenen Anschlägen und der Ermordung von Benazir Bhutto, der Vorsitzenden der PPP, hatte die Bevölkerung Angst, an politischen Versammlungen teilzunehmen und deshalb blieben sicher auch viele den Wahlurnen fern. Die Zeitung „The News“ meldet, dass landesweit 25 Personen während den Wahlen umgekommen sind. Wichtig ist dabei, dass die meisten Opfer im NWFP zu beklagen sind – in der Nähe von Waziristan, dem Talibanland. In Islamabad hingegen war die Wahlbeteiligung mit 50-60% sehr hoch. Nach Medienberichten sind gesamtpakistanisch gesehen rund 25-30% der Wähler und Wählerinnen an die Urne. Heute geht das Leben für die meisten Menschen wieder ganz normal weiter. Die Strassen Islamabads sind wieder – wie an jedem Arbeitstag – mit dem überquillenden Verkehr der Pendler verstopft. Die Normalität ist wieder eingekehrt. An einigen Orten sieht man noch Menschen, die vor den Wahlbüros ihrer Partei warten. Doch für die meisten Pakistanis steht Geldverdienen und die Sorge um das Überleben wieder an erster Stelle.
–Reden die Leute über die Wahlen? Was schreiben die Zeitungen?
Die Urdu Zeitung Jang aus Rawalpindi schreibt in Fettschrift: „Die Türme sind gefallen – Sujaad, Sheikh Rashid, Rau Sikander, Humayun Akthar und Hamid Naser Chatta sind gefallen“ – alles ML-Q Politiker;
„Nawaz Sharif: Musharraf muss gehen. Die abgesetzten Richter müssen wieder eingesetzt werden“ Roznama Express, Islamabad;
Und ein schöner, lautmalerischer Urdutitel: „Heisser Kampf zwischen Pfeil und Tiger – beim Fahrradreifen ist die Luft draussen“ Roznama Jinnah, Islamabad. In dieser Urdu Zeitung werden also die Parteizeichen verwendet, die den jeweiligen Parteien zugeteilt wurden, damit auch die meisten pakistanischen Analphabeten nicht aus Versehen den falschen Kandidaten wählen, der ihnen gar nichts bezahlt hat.
Englisch sprachigen Zeitungen titeln
„Die Demokratie rächt sich“ The News – hoffen wir, dass die Rache nicht gewalttätig wird oder
„PPP, ‚N’ werfen die PML-Q aus dem Rennen“ The Nation;
Frontier Provinz ist da noch vorsichtig und schreibt: „PML-N, PPP scheinen die Wahlen im Sturm zu gewinnen“ – nach jedem Sturm kommt eine Ruhephase, hoffen wir, dass dies auch in der Politik der Fall ist.
„All the King’s men, gone“ – damit meint man die Kandidaten der Königspartei von Musharraf, die ML-Q. Daily Times.
Die Zeitungen stellten fest, dass einige politische Schwergewichte ihren Sitz gestern in den Wahlen verloren haben. So zum Beispiel der Präsident der ML-Q, Chaudhry Sujaat Hussain. Letzte Woche, als wir aus Lahore berichteten und praktisch gegenüber den Chaudhries einquartiert waren, zwängten sich Tag und Nacht unzählige PWs, die bunt bemalten Lastwagen, die laut kreischenden und Umwelt verpestenden dreirädrigen Rikshaws durch die Strasse vor den Villen der Chaudhries. Gestern war diese Strasse gesperrt, denn eine riesen Party war geplant. Nach den ersten Wahlergebnissen wurden dann eilig die Tische weggetragen und den Besuchern gesagt, dass es doch besser sei, wieder einmal zuhause zu essen.
Ein anderes Schwergewicht ist Sheikh Rashid, der als Kandidat der ML-Q aus dem Lal Haweli in Rawalpindi – wie sein Palast genannt wird – seinen Hut nehmen musste. Der zigarrenrauchende Lebemann hat wohl ausgespielt und reiste noch gestern Nacht nach Spanien in die Ferien. Er verkörpert für mich das politische Gewissen Pakistans. Er war nun fast 24 Jahre in jeder Regierung in irgendeiner Funktion dabei und wechselte die Parteien nach Lust und Laune. Als ich ihn einmal interviewte und nach der politischen Loyalität fragte, antwortete er: „Was heisst da Loyalität gegenüber der PPP oder Muslim League. Meine Partei ist jene, die gewinnt.“ Wenigstens ein ehrlicher pakistanischer Politiker. Nun, dieses mal hat es wohl nicht ganz geklappt, doch er ist ein Stehaufmännchen. Lassen wir uns also überraschen.
–Es gibt ein gespanntes Warten auf definitive Resultate. Gibt es überhaupt den Glauben, es könnte sich etwas ändern, wenn die Opposition gewinnen sollte?
Alle warten auf die definitiven Resultate. Was aber jetzt schon feststeht: Musharraf konnte gestern zu Recht in seiner TV-Ansprache sagen, dass er sein Versprechen gehalten hat – die Wahlen waren mehr oder weniger fair, mehr oder weniger frei, mehr oder weniger transparent und auch mehr oder weniger friedlich. Dass die Opposition so stark abschneiden würde, wie es bis zum jetzigen Zeitpunkt der Fall ist, damit hat wohl niemand wirklich gerechnet. Die Menschen wollen eine Änderung, doch die Frage ist natürlich welche? Meistens sind es nur die Kontonummern jener, die in der neuen Regierung das Volk abzocken. Viele Menschen, die wir in den letzten Tagen und Wochen begegnet sind, haben auch ganz klar gesagt, dass sie keine Änderung erwarten, egal wer die Wahlen gewinnen wird. Einige meinten auch resigniert, dass sie gar nicht stimmen gehen.
–Kurz Ihre eigene Biografie: in Pakistan geboren, mit 2 Jahren in die Schweiz gekommen – seit 1984 Schweizer – wie oft Sind sie in Ihrer alten Heimat?
Ab 2001, seit ich mit dem Aufbau der Sozialprojekte von LivingEducation beschäftigt bin, reise ich mehrmals im Jahr nach Pakistan. 2007 war ich fast das ganze Jahr über in Pakistan und reiste in die Schweiz nur um meine Familie zu besuchen und für meine Vorlesungen.
–Sie sind in Pakistan oft im Dorf Paran – Nähe Faisalabad – der 3. grössten Stadt Pakistans, westlich von Lahore – Was erscheint Ihnen der grösste Gegensatz im Alltag dort zur Schweiz?
Ich habe gelernt, das pakistanische Volk hochzuschätzen. In der Schweiz kann man das ganze Jahr mehr oder weniger unter normalen Verhältnissen arbeiten. Im Sommer wird es hier während mehreren Monaten so heiss, dass man sich kaum mehr bewegen kann. Dann folgt die zweimonatige Regenzeit. In den Dörfern und auch in vielen Städten verwandelt sich der Boden in eine Schlammasse. Dies wurde mir während den Wahlen letztes Jahr bewusst, wie stark das Leben und die politischen Aktivitäten von Kälte und Regen abhängen. In Pakistan ist es im Winter kalt, denn man hat keine Zentralheizung und oft gibt es auch keinen Strom. Drei Monate im Jahr kann man den Pakistani wegen der Kälte kaum brauchen. Ja, und dann ist noch der Monat Ramadan, dann wird gefastet. In der restlichen Zeit wird vom Stress ausgeruht und ab und zu gearbeitet.
–Wie spürbar ist dort die aktuelle Politik – z.B. Die Demonstrationen der Anwälte? Der Ausnahmezustand, den Pervez Musharraf letztes Jahr verhängte? Oder die Ermordung von Benazir Bhutto im Dezember?
In den meisten Dörfern merkte man gar nichts. Die Ermordung von BB hat Konsternation hervorgerufen. Doch das Leben ging normal weiter. Die Bauern waren beschäftigt mit der Ernte und der Sorge, ob sie genug Wasser erhalten. Ich wurde während der Wahlkampagne von Zafar Waraich in Rahim Yar Khan im Dezember von einem Dorfbewohner gefragt, wann der Ausnahmezustand endlich aufgehoben wird – dabei war er schon seit 10 Tagen ausser Kraft.
Nur wenn man in die Grossstädte ging, wie z B Faisalabad, dort gab es Demonstrationen der Anwälte. Eine mühsame Sache für jede Person, die vor Gericht einen Fall hängig hatte, denn mehrere Monate musste man zwar alle 10 Tage vor Gericht erscheinen, wurde aber wegen dem Streik auf den nächsten Termin verwiesen. Eine unzumutbare Situation für Menschen, die zu Unrecht in Haft waren und wegen dem Anwaltsstreik nicht einmal eine Haftentlassung auf Kaution erwirken konnten.
—-Zum Bild hier vom Alltag in Pakistan, der von Gewalt geprägt scheint durch Selbstmordanschläge – Wie ist die Wahrnehmung hierzu in Paran?
In meinem Dorf, in dem LivingEducation Projekte durchführt, merkt man nichts von der Gewalt und Selbstmordanschlägen, die meist im Grenzgebiet zu Afghanistan stattfinden. In den Dörfern halten sich die Leute in Trab, in dem sie sich gegenseitig wegen Landstreitereien anzeigen und sich dann wieder vor Gericht treffen. Dies kann sich dann in die Länge ziehen, weil Mal der Richter nicht kommt oder dann die Anwälte streiken oder wegen einem hohen Besuch aus Islamabad das Gericht einfach geschlossen wird, natürlich ohne dass man benachrichtigt wird.
–Wie ist der Unterschied vom Land zur Stadt – z.B. in Lahore?
In den Städten haben wir weiche Ziele, wie z.B. eine Moschee, die in die Luft gejagt wird, weil die Gläubigen einer falschen Religionsrichtung angehören. Auch Märkte waren immer wieder Zielobjekte, da man dort vielen Menschen durch einen Anschlag schaden kann. Die Stadtbevölkerung ist somit irritiert und verängstigt. Vor allem auch die Oberschicht, die nicht mehr ihre Parties sorgenfrei feiern kann. Doch der Durchschnittsbürger ist besorgt, wie er an seinen Arbeitsplatz gelangt, wie er seine Familie ernähren kann. Dies waren auch die Gründe, weshalb in den Städten nur wenige Menschen an den Wahlveranstaltungen und an den Wahlen teilnahmen.
–Vor Wahlen in der Schweiz diskutieren die Leute am Stammtisch und in TV-Sendungen –Wie wird in Pakistan über Politik geredet?
Natürlich wird auch in Pakistan heftig diskutiert und debattiert. Trotz allem, die Medien waren recht frei und es wurde auf die Wahlen eingegangen. Die Anschläge überschatteten jedoch die Kampagnen und die Angst war in jeder Diskussion ein wichtiges Thema.
–Im Westen hat man die Angst, Extremisten könnten in Pakistan die Oberhand gewinnen und damit die Atommacht Pakistan beherrschen. Ist das ein Thema in der Bevölkerung?
Die Pakistanis sind gegen die Extremisten. Dies zeigen nun auch die Wahlen. Die islamistische Partei von Fazak ur Rehman hat bis jetzt gerade einmal drei Sitze gewonnen. Die Islamisten waren sich dieser Niederlage bewusst und die meist Mullah-Parteien sind schon gar nicht angetreten – ein Boykott hat ihr Gesicht gewahrt, scheinbar. Doch das Volk hat ihnen eine Ohrfeige verpasst und auch den ausländischen Medien, die in fast jedem Pakistani einen Talibankämpfer vermuten.
Die Atombombe ist der Stolz der Nation. Dies war ein Wahlthema. Nawaz Sharif rühmte sich in den Wahlen, dass er für die Bombe verantwortlich ist. Auch BB rühmte sich, dass ihr Vater der Initator der A-Bombe sei. Die Pakistaner werden niemals zulassen, dass irgendjemand ihnen ihre Atombombe wegnimmt. Dass bei einer Explosion nicht gerade viel von Pakistan übrig bleibt, das ist den wenigsten Befürwortern der Bombe bewusst.
–Wie ist Ihre eigene Einschätzung? Was ist die grösste politische Sorge der Bevölkerung?
Für die Unterschicht, wie sie überleben kann. Für die Oberschicht, wie sie noch reicher werden können.
–In Indien erleben wir einen wirtschaftlichen Aufschwung – Wie ist dazu die Wahrnehmung in Pakistan?
Wenn es Indien gut geht und Pakistan zu einem starken Handelspartner Indiens wird, dann hat es einen sehr positiven Einfluss. Es macht auch Sinn, mit dem Nachbarland starke Handelsbeziehungen aufzubauen. Viele IT Spezialisten aus Indien arbeiten in der Schweiz, doch auch immer mehr Pakistanis drängen sich ebenfalls erfolgreich in den IT Markt. Und am Schluss, der pakistanische Bauer hat nichts gegen den indischen Bauern auf der anderen Seite der Grenze.
–Zurück zu den Wahlen: Wahlen seien eine Farce, hiess es im Vorfeld – Jetzt gibt es Meldungen von Fälschung, Betrug, Frauen, die vom Wählen abgehalten wurden – Wie sind Ihre eigenen Beobachtungen und die von Zeugen?
In Lahore hatten wir die Möglichkeit mit einer Gruppe Ahmadi Muslime zu sprechen, die seit 1974 zu einer nicht-muslimischen Minderheit erklärt worden ist. Seit 1974 wählen sie nicht mehr, da sie, um wählen zu dürfen, sich schriftlich bekennen müssen, dass sie keine Muslime sind. In diesen Wahlen haben alle Bürger und Bürgerinnen gemeinsam gewählt. Für die Ahmadis gibt es aber eine separate Wählerliste. Sie sind seit 34 Jahren aus dem politischen Leben ausgeschlossen. In der Pressekonferenz des Informationsministerium stellte Radio DRS die Frage, weshalb die Ahmadis nicht frei wählen dürfen. Nazar Memoon antwortete in einem äusserst hässigen Ton, dass dies gelogen sei. Doch das Gemurmel der pakistanischen Journalisten liess erkennen, dass wenigstens sie die Frage verstanden hatten – all den ausländischen Journalisten schien diese Tatsache kaum bekannt zu sein. So gesehen ist die ganze Wahl natürlich eine Farce. Doch vielleicht sind nicht alle Menschen vor dem Recht gleich – dies gilt auch für Frauen, die manchmal nicht einmal als Mensch wahrgenommen werden. Deshalb auch das Schweiz-pakistanische Menschenrechtsbüro für Frauen, Dast-e-Shafqat, das sich für rechtlose Frauen einsetzt.
–Nun zu einem Ausblick: Wie geht es nach den Wahlen weiter? Vor allem für die Bevölkerung – wirtschaftlich, im Bereich Bildung und im Alltag?
Das Leben wird für die meisten Menschen genau gleich weitergehen, wie vor den Wahlen. Nur, die Versprechen der PPP oder ML-N, dass nun alles wieder viel billiger werden wird, wird sich nicht erfüllen. Das wird vielleicht auch der Grund sein, weshalb die nächste Regierung nicht sehr lange an der Macht bleiben wird. Es sei denn, dass es Musharraf gelingt eine nationale Einheitsregierung zu formieren, die die wirtschaftlichen Probleme erfolgreich angeht.
–Wie weit ist eine Demokratisierung möglich? Wie sehen Sie die Korruption, das Militär als Macht? Was, wenn Musharraf weniger Macht hat? Ist die PPP als Familien-Erbe Partei überhaupt fähig, etwas zu ändern? Wer steigt nach der Ermordung Benazir Bhuttos in Pakistan überhaupt in die Politik ein?
Das pakistanische Volk hat heute gezeigt, dass es friedliche, freie und transparente Wahlen durchführen kann. Es könnte ein Schritt in Richtung Demokratie sein. Doch, solange Politik als ein Geschäft angesehen wird, um noch mehr Macht zu erringen, um noch mehr Geld zu verdienen und die Familienclans der Bhuttos, Sharifs und wie sie alle heissen mögen, die Partei als ihr Aktieneigentum betrachten, hat Demokratie keine Chance.
Islamabad, kurz nach den Wahlen im Februar 2008.
Yahya Hassan Bajwa, 47, Kommunikationswissenschaftler & Dolmetscher, Dozent; Verein Living Education mit div. Hilfsprojekten in Pakistan; Büro für Forschung & Kommunikation in Baden
Frühere Life-Berichte aus Pakistan – die Berichte dürfen kopiert werden, aber bitte die Quellen angeben, damit die folgenden Berichte auch gelesen werden können. Danke und ein spezielles Merci an meinen «Privatkorrespondenten» und Kollegen Yahya.
Vor einem Jahr erschienen: Kalter Vorsommer im Februar – dieses sind wir rund eine Woche später dran – aber noch ist nicht Frühling
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